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Königs Wusterhausen  
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In Fontane ist Action - Das Vorleseprojekt im Freiwilligenzentrum läuft gut
Beifall ernten an diesem Vormittag Der Kleine Prinz, Loriot, Kurt Tucholsky und Theodor Fontane. Sie alle sind mit Rainer Buchheim angereist, huckepack. Im Rucksack. „Ich lese nach einer ganz bestimmten Reihenfolge“, verrät er, und deutet auf die vielen Klebezettel, die sich wie Zähne zwischen den Buchseiten festbeißen. Bei Rainer Buchheim ist der Name Programm. Bücher sind sein Ding. Seit sieben Wochen ist er Vorleser in einer Senioreneinrichtung der Stadt, vermittelt vom Freiwilligenzentrum des KWer Bündnisses für Familie.
Buchheim ist eine Rarität: der einzige Mann bei der Vorleser-Initiative. Im Februar hat er sich angemeldet. „Nur für mich alleine lesen, das wollte ich auf Dauer nicht“, begründet der 60-Jährige. Nun liest er einmal die Woche für die alten Menschen. Mindestens zehn Zuhörer sind jeden Mittwochvormittag zur Stelle, „es ist bereits zum Ritual geworden“. An diesem Morgen hat Rainer Buchheim die Fontane-Ballade „John Maynard“ im Gepäck, einen Publikumswunsch von voriger Woche. „Das kann ich schon machen, in dem Gedicht ist Action, es lässt sich gut vortragen.“
Die Senioren lauschen dem Mann mit dem munteren sächsischen Akzent. Später rechtfertigt ihn Rainer Buchheim mit Augenzwinkern, indem er den Schauspieler Gert Fröbe ins Feld führt: „Ihm hat man seine Leben lang angehört, dass er Sachse war.“ Anschließend packt Buchheim Loriot aus. Langsam zeichnet sich ein Lesemuster ab: Heitere und ernste Texte wechseln sich ab, „damit es nicht zu anstrengend wird“. Auch nicht für den Vorleser, denn vor den Senioren muss Rainer Buchheim lauter sprechen als sonst. Übt er? Ein Nicken. „Ich lese nur Texte vor, die ich kenne.“
Aufgefallen ist ihm das Interesse seiner Zuhörer an „anspruchsvollen Sachen“. Etwa den Klassikern, die viele der älteren Menschen noch aus Schulzeiten kennen. Als Rainer Buchheim zum Abschluss zwei Kapitel aus Saint-Exupérys „Kleinem Prinzen“ liest, ist der eine oder andere im Saal irritiert: „Nicht alle kennen das Buch“, analysiert der Ehrenamtler, „aber es ist so schön poetisch, daraus ergeben sich manchmal Gespräche für später.“ Später heißt, nachdem die Vorlesestunde vorbei ist. Es gibt Beifall für Rainer Buchheim. Ein Zuhörer kommt nach vorne und bittet ihn, kommende Woche Goethes „Zauberlehrling“ zu lesen. Er verspricht es – und strahlt.
Ortswechsel, später Nachmittag im Achenbach-Krankenhaus. Auf der Pädiatrie, der Kinderstation, ist der Stier los. Bärbel Gaußmann liest aus dem Kinderbuch „Ferdinand der Stier“, dessen Einband schon ein wenig abgegriffen wirkt. „Stimmt, das Buch habe ich bereits meinen Kindern vorgelesen“, erzählt sie. Im April sind es zwei Jahre, die sich Bärbel Gaußmann im Freiwilligenzentrum einbringt. Die Vorleserin ist am frühen Abend im Einsatz, „wenn die Besuchszeit vorbei ist und die Eltern nach Hause gehen. Für viele Kinder ist der Abschied schwer.“ Sie überbrückt den Trennungsmoment mit einer spannenden Geschichte. Die Jüngeren hören Ferdinands Abenteuer, für die jugendlichen Patienten hat Bärbel Gaußmann heute einen Band mit griechischen Sagen dabei. „Mythologie fasziniert mich selbst“, gesteht sie, „das ist viel besser als jede Prinzessinnengeschichte.“
Eine halbe Stunde plant die Vorleserin für jedes Zimmer auf der Kinderstation ein. Insgesamt ist sie gute zwei Stunden beschäftigt, die jungen Zuhörer gebannt. Meist. Es gibt auch solche, die lieber ein wenig mit „Frau Gaußmann“ plaudern wollen. Ob sie „du“ oder „Sie“ zu ihr sagen, dürfen die Patienten selber entscheiden. Die 68-Jährige erinnert sich an die Begegnung mit einem Geschwisterpaar aus Palästina: „Das Mädchen lag in der Klinik, sein Bruder war zu Besuch.“ Erst wurde gelesen, im Anschluss entwickelte sich ein Gespräch über den Nahostkonflikt. An jenem Abend verließ Bärbel Gaußmann um halb zehn Uhr abends die Klinik – voller neuer Eindrücke.
Den Freiwilligendienst im Krankenhaus teilt sich die Königs Wusterhausenerin mit einer Kollegin aus Eichwalde, „die sogar noch berufstätig ist“, zollt Bärbel Gaußmann Respekt. Demnächst wird das Duo zum Trio erweitert, eine dritte Vorleserin eingearbeitet. Wie Rainer Buchheim ist Bärbel Gaußmann mit einem Bücherrucksack anzutreffen. „Fünf Kilo dürfte er wiegen“, schätzt sie den Inhalt. Und wiegelt gleich ab: „Das geht schon. Ich habe einen guten Rucksack.“ Unter mehreren Büchern dürfen sich die Kinder eine Geschichte aussuchen. „Manchmal bleiben die Eltern dabeisitzen, obwohl sie schon am Gehen waren.“ Weil Vorlesen eben fasziniert. Manchmal zögern die Kinder dafür sogar ihre Entlassung einige Stunden hinaus. Bärbel Gaußmanns Stimme wird weich, als sie von einem Achtjährigen erzählt, der ihr mucksmäuschenstill zuhörte und anschließend sagte: „Toll war das, mir hat schon so lange niemand mehr vorgelesen.“ Betroffen sagt sie einen Moment lang nichts.
Das Vorleseprojekt ist alles andere als Beschäftigungstherapie. Es lehrt Hinhören und weckt die Lust am Vorlesen, nicht nur vor Kinderpublikum. Rainer Buchheim geht nach dem Besuch „seiner Senioren“ genauso beschwingt nach Hause wie Bärbel Gaußmann, als sie am Abend die Klinik verlässt. Zwei Jugendlichen hat sie noch vorgelesen, dabei sah es zunächst danach aus, als seien die Teenager zu cool dafür. „Ihr habt anscheinend keinen Bock darauf?“ scherzte die Vorleserin. Das hinterließ mächtig Eindruck: Die Jungen waren ganz Ohr. Beim Vorlesen dann sowieso.
Tanja Kasischke - MAZ

April 2010